Zu keinem Zeitpunkt lässt sich die Vogelwelt in inneralpinen Hochtälern besser beobachten als Anfang Juni. Alle Langstreckenzieher sind nun zurück und stecken ihre Reviere ab, das Brutgeschäft der Standvögel und Kurzstreckenzieher ist in vollem Gange. Wer optimale Beobachtungsbedingungen und gutes Licht für Fotos antreffen möchte, muss sich aber in Geduld üben, denn Frühsommer und stabiles Wetter in den Bergen beisst sich irgendwie. Oft ist es nur ein einzelner Tag, der gewitterfrei bleibt, wenn nicht ohnehin die berüchtigte Schafskälte für Dauerregen oder gar Schneefall bis in die höheren Tallagen sorgt.

Oberhalb von Realp liegt einem das Urserental zu Füssen, Blick Richtung Osten
Die aussergewöhnlich lange andauernde Blockierungslage mit Hochdruckgebieten über Nordeuropa sorgt im Frühsommer 2023 für äusserst trockene Verhältnisse im Flachland. In den Alpen hingegen ist Tagesgangwetter die Regel: Nach einem sonnigen Morgen schiessen bereits vor Mittag Quellwolken in die Höhe und bringen am Nachmittag vielerorts Regengüsse und Gewitter. Wo genau diese niedergehen, ist oft dem Zufall überlassen, wenn auch bei einer bestimmten Anströmung wie in diesen Tagen Nordost manche Gebiete “bevorzugt” und somit täglich getroffen werden. Das Urserental gehört dazu, denn die täglich über den Urner Voralpen entstehenden Gewitter werden mit der Höhenströmung genau hierhin verdriftet. Eine kleine Richtungsänderung des Höhenwindes wie am 6. Juni kann bewirken, dass an genau diesem Tag die Gewitter woanders durchziehen und das Urserental trocken bleibt – solche Tage gilt es auszunutzen.

Der Übergang von der Grosswetterlage Hoch Britische Inseln HB zu Hoch Nordmeer-Fennoskandien antizyklonal HNFA und somit vom Grosswettertyp Nord zu Ost bewirkt eine kleine Änderung in der Höhenströmung mit vorübergehend etwas stabileren Verhältnissen. Am Boden ist die Druckverteilung typisch frühsommerlich flach.
Bedingt durch die lange Anreise mit dem Zug aus dem Mittelland startet die Wanderung am Mittag in Realp. Wer vor Ort übernachtet oder frühmorgens mit dem Auto anreist, kann die Tour bereits am frühen Nachmittag beenden und muss somit weniger auf stabile Tage achten, auch entgeht man damit dem ab Mittag zunehmenden Talwind, der mitunter bei der Beobachtung und vor allem akkustisch stören kann.
Der kurze Abstecher hinauf zum Bannwald oberhalb von Realp ermöglicht die Beobachtung von Arten des Nadelwaldes, der in der Folge der Wanderung im Talboden selten ist. Auch jagen hier Gebäudebrüter aus dem Dorf wie Mauersegler und verschiedene Schwalben nach Insekten.

Mehlschwalben picken Lehm für den Nestbau auf. Die ebenfalls herumschwirrenden Felsenschwalben wollten leider nicht mit aufs Bild.

In den Gehölzen entlang des Bergbaches kann man Gartengrasmücken beobachten

Auf dem Weg durch die Bergwiesen kommen auch Botaniker nicht zu kurz

Auf Felsblöcken und einzelstehenden Büschen oder jungen Fichten markieren Braunkehlchen ihr Revier. Etwas mehr Geduld oder einfach nur Glück braucht es für Steinrötel.

Blick nach Westen zum Furkapass. Viele Bauten sind hangseitig mit einem Schutzkegel gegen Lawinen versehen, so auch diese Kapelle.

Alpenbirkenzeisig nascht Weidensamen. Leider sieht man die rote Stirn bei dieser Unteransicht kaum. An dieser Art lässt sich die Klimaerwärmung ablesen, sie verlegt ihren Lebensraum stetig nach oben.

Mein Mittagsrastplatz an der Reuss. Hat den Vorteil, dass mal für eine halbe Stunde das Dröhnen der nahen Furkastrasse übertönt wird. Hat den Nachteil, dass man auch kaum Vögel hört…
… wer aber die Augen offen hält, kommt trotzdem auf seine Kosten:

Männliche Gebirgsstelze, hat ihr Nest wahrscheinlich in der Nähe.

Auch eine Wacholderdrossel hat Futter gesammelt. Sie beobachtet mich genau und fliegt das Nest nicht an, um seinen Standort nicht zu verraten. Also verkrümel ich mich rasch, damit der Nachwuchs nicht hungern muss.

Gleich daneben im schattigen Unterholz: Heckenbraunelle

Das kleinräumige Mosaik von Bergwiesen, Felsblöcken, Einzelbüschen, Fichtengruppen, Auwäldchen entlang der Reuss mit Tümpeln und sogar etwas Schilf bringt diese Artenvielfalt auf engem Raum hervor. So hört man an dieser Stelle auch den Wendehals quäken.

Den (gewöhnlichen) Gimpel hätte ich schon mal. Das Objekt der Begierde in diesem Hochtal, der Karmingimpel, hält sich bislang versteckt.
Apropos verstecken: Der hier ist ein Meister darin ebenso wie in der Imitation unzähliger Vogelstimmen, die er teils aus dem Brutgebiet bei uns, teils im Überwinterungsgebiet im tropischen Afrika aufschnappt. Meist hört man ihn nur, wie in diesem Video:
Ich hab aber keine Ruhe gelassen und bin (ebenfalls in der Deckung, wollte ihn ja nicht verscheuchen) herumgeschlichen, bis ich ihn durch eine Lücke erhaschen konnte:

Schweizer Vogel des Jahres 2023: Sumpfrohrsänger (mehr dazu)

Auch ein Rücken kann entzücken. Den Karmingimpel fand ich dann doch noch, allerdings ohne Karmin: Der Gesang verriet ihn als Männchen, allerdings ein vorjähriges und somit noch nicht ausgefärbt. Im ersten Sommer nach der Geburt sind die Männchen noch weibchenfarbig, also non-binär sozusagen ;-) Nur 50-70 Paare brüten in der ganzen Schweiz, man muss also wissen wo man suchen muss und dabei auch noch Glück und Geduld haben und natürlich seine Stimme (Aufnahme: Simon Birrer via xeno-canto.org) kennen, denn meist hält er sich versteckt und man hört ihn nur, über eine halbe Stunde habe ich da gesessen bis dieses Bild möglich wurde.

In dieser Landschaft darf natürlich auch der Steinschmätzer nicht fehlen
Ornithologen können sich den Abschnitt von Hospental nach Andermatt sparen, denn der Golfplatz bietet nur Arten Lebensraum, die man zuvor unterwegs wahrscheinlich bereits gesehen hat. Mittendrin steht aber das, was die Meteorologin interessiert:

Perfektes Timing, denn soeben wurde das Heu aufgewalmt und somit der Weg frei für Nahaufnahmen. Der perfekte Abschluss eines aussergewöhnlichen Tages.
Anreise: Mit dem Zug via Zürich oder Luzern und Göschenen oder von Bern über Brig nach Realp. Bei der Rückreise ab Andermatt ist die Verbindung über Göschenen und Zürich oder Luzern meist die schnellste.
Beste Zeit: Ende Mai bis Ende Juli
Wer mehr als einen Tag zur Verfügung hat und im Urserental übernachtet, kann weitere Exkursionen in Richtung Furkapass zu Vögeln des Hochgebirges unternehmen (z.B. Schneesperling, Steinrötel, Alpenbraunelle, Steinadler, Schnee- und Steinhuhn). Die mit Grünerlen stark bewachsenen Nordhänge des Urserentals beherbergen eine hohe Dichte an Klappergrasmücken, auch das heimliche Haselhuhn versteckt sich darin. Steile und schmale Bergwege; gutes Schuhwerk und Trittsicherheit sowie Ausdauer nötig.
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Microwave am 13. Juli 2023 um 22:10 Uhr
Wow, sehr schöner Bericht mit prächtigen Bildern!
Habe den leider nur jetzt gesehen, wo ich mich mal wieder getraut habe, deine Blogs zu lesen (ich wollte nicht schon wieder einen Sommer wie 2022 vorhergesagt bekommen (und erhalten!), nachdem schon Mitte Juni hier das Gras sehr braun überall ausgesehen hatte… ;) )
Grüsse – Microwave