Vor Jahresfrist konnten wir bereits Ende Oktober eine relativ sichere Winterprognose abgeben, die Anzeichen damals standen bereits früh für einen milden Winter. Dieses Jahr ist alles etwas komplizierter, da der Unsicherheitsfaktor El Niño mit reinspielt. Wir haben alle Einflussfaktoren gegeneinander abgewogen und so versucht, einen Trend herauszulesen. Eines ist ziemlich sicher: Die Wahrscheinlichkeit für den bereits vielfach anhand von Zeichen aus der Natur wie früher Zwergschwanzug, Blütenstände von Königskerzen, ertragreiches Honigjahr, grosse Tannenzapfen und viele Maulwurfshügel ausgerufenen strengen Winter ist recht klein. Im Gegensatz zu einigen unseriösen Wetterdienstleistern, die bereits seit einem Monat wochen- oder dekadengenaue Prognosen des gesamten Winterverlaufs zu Geld machen, sind wir uns der Grenzen von Langfristprognosen bewusst und bleiben bei allgemeinen Trends und Wahrscheinlichkeiten. Der Reiz des Wetters lebt ja auch von seinem Überraschungspotenzial und solches wünschen wir uns auch als Vogelbeobachter.

Gemittelte Temperaturprognose für die Monate Dezember, Januar und Februar des amerikanischen Langfristmodells CFS (Abweichung zur Klimanormperiode 1981-2010)
Aktuelle Einflussfaktoren für einen kalten Winter 2015/16 sind:
– El Niño-Phase (Einfluss eher gering bzw. nicht zweifelsfrei nachgewiesen)
– Eurasische Schneebedeckung und warme (=eisfreie) Barentssee (Einfluss unter aktuellen Bedingungen eher gering)
Neutrale Einflussfaktoren:
° Sonnenflecken-Zyklus
° Vulkanaktivität der vergangenen zwei Jahre
Einflussfaktoren für einen milden Winter:
+ positive NAO-Phase (starker Einfluss)
+ überdurchschnittliche Wassertemperaturen rund um Europa (zu Beginn starker Einfluss, im Lauf des Winters möglicherweise abnehmend)
+ Klimawandel: globale Temperatur auf Rekordniveau
Zieht man die Schlüsse aus all diesen Voraussetzungen, so muss man klar feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit für den vielfach herbeigeorakelten strengen Winter sehr gering ist. Vor allem angesichts des global sehr hohen Temperaturniveaus ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet Europa zu einer Kälteinsel werden sollte. Positive NAO und Wassertemperaturen rund um Europa sprechen deutlich für einen Mildwinter, der im Schnitt ungefähr auf dem Niveau des Winters 2014/15 zu liegen kommen dürfte. Die Modellrechnungen des CFS bestätigen diesen Trend mit einer Abweichung von ungefähr 1 Grad gegenüber dem Mittel 1981-2010 in weiten Teilen West- und Mitteleuropas. El Niño könnte dazu führen, dass die positive NAO in der zweiten Winterhälfte geschwächt wird. Die Wahrscheinlichkeit für eine kalte Phase mit strengen Frösten, eingeleitet durch eine Nordost- bis Ostlage, ist also durchaus gegeben. Die Ausgangslage spricht für ein solches Szenario am ehesten im Kernwinter, also zwischen Mitte Januar und Mitte Februar, es könnte aber durchaus auch erst im Frühling auftreten. Die erste Winterhälfte ist eher geprägt von wechselhaftem und feuchtem Westwindwetter mit zeitweilig warmen Südwest- und kälteren Nordwest-Einlagen, die für eine normale bis leicht überdurchschnittliche Schneebedeckung in den mitteleuropäischen Gebirgen sorgt. In den Niederungen halten sich Schneedecken vermutlich jeweils nur kurzzeitig. In der zweiten Winterhälfte (ab Mitte Januar) werden längere (höhen-)milde und hochdruckdominierte, aber auch längere kalte Phasen mit schwächerem Westwindeinfluss und somit eher trockener Witterung wahrscheinlicher. Wie lange sich dabei eine Schneedecke auch in den Niederungen halten kann, ist stark von der zeitlichen Abfolge der Grosswetterlagen abhängig und auf einen derart langen Zeitraum nicht vorhersagbar. Die gemittelte Prognose des CFS-Langfristmodells über alle drei Wintermonate bestätigt den Einfluss des Atlantiks auf West- und Mitteleuropa durch leicht überdurchschnittliche Niederschläge, während im Osten kein eindeutiger Trend für eine Abweichung von der Norm zu erkennen ist:
Für die Leserschaft die an detaillierten Begründungen unserer Annahmen interessiert ist und über ein Grundwissen an Meteorologie und Klimatologie verfügt, haben wir auf unserer Partnerseite fotometeo.ch eine ausführliche Version dieser Prognose online gestellt, die insbesondere auf die Wirkungskette eines El Niño auf den Winter in Europa eingeht.
Auswirkungen auf die Vogelwelt:
Empfindliche Vogelarten haben sich bereits beim ersten Kälteeinbruch Mitte Oktober auf den Weg in den Süden gemacht, von einigen nordischen Arten wurden sehr frühe Zugzeiten beobachtet. Der aktuelle Wintereinbruch zu Beginn des dritten Novemberdrittels kann ein guter Antrieb für Trödler sein, sich jetzt doch auf den Weg in wärmere Gegenden zu machen. Ansonsten besteht für Teil- und Kurzstreckenzieher mit einem Überwinterungsversuch bei uns die Gefahr, dass nach einer recht milden ersten Winterhälfte ein überraschender und markanter Kälteeinbruch zur Falle wird. Nach den ersten (sehr späten) ergiebigen Schneefällen im Hochgebirge dürften nun auch viele Gebirgsvögel in tiefere Lagen ausweichen und dort bis zum Frühjahr verbleiben. Spannend wird sein, wie sich die Wintergäste bei uns verhalten werden, sollte sich die vermutete “Kampfzone” zwischen sehr milder Luft aus Südwesten und sibirischer Kaltluft aus Nordosten im späteren Winter tatsächlich über uns einstellen. Doch zunächst ist mit häufigen Westlagen und somit auch einigen Stürmen zu rechnen, die Seevögel ins Landesinnere verfrachten können. Dass die Sturmserie wie im Winter 2013/14 auf dem Atlantik so extrem ausfällt, dass sie für viele Hochseevögel zum Verhängnis wird, ist hingegen weniger wahrscheinlich.
Jürgen Vollmer am 23. November 2015 um 15:12 Uhr
Ja! Unaufgeregt sachlich und kompetent. Einzige Anmerkung meinerseits: Das kalte Nordatlantikwasser könnte auch den gegenteiligen Effekt bewirken, nämlich Schwächung der NAO, wenn der Ausfluss vom nordamerikanischen Kontinent nicht allzu wuchtig daherkommt. Dann könnte nämlich die kühlende Wirkung der nordatlantischen Meeresflächen die Temperaturgegensätze so schwächen, dass mächtige Tiefs Richtung Island die Ausnahme bleiben und die Westdrift deutlich weiter nach Süden versetzt wird, Stichwort: Südliche Westlage!
Ein solches Szenario würde die Chancen für längere Kälteblocks über dem östlichen Europa wiederum steigern und könnte (nicht muss) bei uns womöglich mehr und öfter Schneefälle auch bis ganz runter bringen, als bei nördlicherer Atlantikdrift. Daher liegt meine ganz persönliche Einschätzung für die Chancen auf Kaltabschnitte auch gut eine Handbreit über Eure sonst perfekten Betrachtungen. :-)
Fabienne Muriset am 23. November 2015 um 15:50 Uhr
Hallo Jürgen, danke für deine Anmerkung. Die aktuelle Verteilung der Wassertemperaturanomalien im Nordatlantik entsprechen mustergültig einer positiven NAO-Phase (nach Wanner et al. 2000, leider finde ich keine guten Karten dazu im Netz, die Uni Bern hatte sie früher mal online). Der kalte Fleck mitten im Nordatlantik stärkt in erster Linie das Azorenhoch, das steht also einer südlichen Westlage im Weg. Es gab allerdings auch schon extrem abrupte Wechsel von positiver zu negativer NAO mitten im Winter, z.B. im Januar 2005. Dieses Beispiel steckt mir noch heute als Mahnfinger im Hinterkopf, wenn es um Langfristprognosen für den Winter geht. “Wenn der Ausfluss vom nordamerikanischen Kontinent nicht allzu wuchtig daherkommt”, dieses Szenario wäre ja eine mögliche Fernwirkung des El Niño. Ich hoffe du hast die ausführliche Version meiner Prognose im fotometeo-Blog gelesen, da wird nämlich genau auf diesen Punkt eingegangen und führt ja zu meiner Annahme, dass wenn es in diesem Winter doch noch zu markanten Kälteeinbrüchen kommt, dies eher spät als früh geschehen dürfte. Nichtsdestotrotz gehe ich davon aus, dass ein kälterer Spätwinter den milden Frühwinter nicht auszugleichen vermag und der Gesamtwinter daher im Schnitt eben milder ausfällt als im Klimamittel.