In einem älteren Blogbeitrag haben wir näher ausgeführt, welche Grosswetterlagen während des Herbstzugs am häufigsten, und welche kaum von den Zugvögeln genutzt werden. Für den Frühjahrszug gibt es solche Studien im Detail noch nicht, wir wollen uns daher Schritt für Schritt anhand einiger Beispiele annähern und versuchen, ein Muster zu erkennen. Die erste Betrachtung zeigt die Erstankunft von Flussregenpfeifern (Charadrius dubius) in der Schweiz anhand der letzten drei Jahre, welche durch einen normalen (2015), einen sehr milden (2014) und einen sehr kalten (2013) März repräsentiert werden. Nachträglich haben wir noch das Jahr 2016 eingefügt, wo der März lange Zeit durch Nordlagen geprägt war, die jedoch keine aussergewöhnliche Kälte brachten.
Weshalb fällt unsere Wahl für die erste solche Untersuchung gerade auf den Flussregenpfeifer? Das erste Kriterium ist die durchschnittliche Ankunftszeit der ersten Individuen nördlich der Alpen im Verlauf des März. Der Flussregenpfeifer eignet sich als Langstreckenzieher besonders gut, da er im Gegensatz zu anderen Frühziehern wie etwa dem Kiebitz so gut wie nie in milden Wintern in Mitteleuropa ausharrt und sich somit die erste Ankunftswelle deutlich in den Statistiken abzeichnet. Weitere Kriterien sind seine relative Seltenheit und die Beschränkung des Vorkommens auf spezielle Lebensräume. Der Flussregenpfeifer wird nur von besonders interessierten Beobachtern gefunden und auf den ornitho-Plattformen gemeldet, was Falschmeldungen so gut wie ausschliesst.
Der Flussregenpfeifer überwintert zu einem grossen Teil südlich der Sahara, einige Individuen machen jedoch bereits im Mittelmeeraum halt. Während die Ankuftszeit der Transsahara-Zieher zu einem wichtigen Teil von den Witterungsverhältnissen in Afrika bestimmt wird, kann man davon ausgehen, dass die am frühesten nördlich der Alpen eintreffenden Flussregenpfeifer zu jener Gruppe gehören, welche im Mittelmeerraum überwintert haben. Der Witterungseinfluss auf das Zugverhalten dieser Vögel ist somit besser überschaubar. Als sehr kleine Limikole mit einem Gewicht von durchschnittlich 40 Gramm ist er ganz besonders dem Wind ausgesetzt, nutzt also die häufiger windschwachen Nächte für den Zug und meidet starken Gegen- oder Seitenwind. Angesichts dieser Voraussetzungen muss man davon ausgehen, dass der Flussregenpfeifer hauptsächlich Grosswetterlagen mit südlichen Windrichtungen für die Überquerung der Alpen nutzt, wobei gleichzeitig trockene Witterung vorherrschen muss. So weit die Theorie – schauen wir uns also das Zugverhalten im Frühjahr der letzten vier Jahre an:
2015
Das Frühjahr 2015 war nach einem relativ milden Winter in jeglicher Hinsicht witterungsmässig ein durchschnittliches. Sowohl im Februar wie auch im März wichen im Alpenraum die Durchschnittstemperaturen nur geringfügig vom Klimamittel der Jahre 1981-2010 ab. Kaltlufteinbrüche hielten sich im normalen Rahmen, ebenso die wärmeren Perioden. Extreme Witterungsperioden blieben im Frühjahr 2015 aus.
Die folgenden Grafiken zeigen oben die Anzahl beobachteter Flussregenpfeifer in der Schweiz, als Quelle dient die Datenbank von ornitho.ch. Darunter veranschaulicht der orniwetter.info-Wetterlagenkalender den Witterungsablauf der ersten vier Monate des Jahres:
Massgeblich ist für unsere Untersuchung die erste stärkere Welle beobachteter Flussregenpfeifer von über 30 Exemplaren. Da viele Beobachter schwerpunktmässig am Wochenende unterwegs sind darf man davon ausgehen, dass ein Teil der am Wochenende (rote Kalenderzahlen) gemeldeten Vögel bereits einige Tage zuvor eingetroffen sind. Wir haben daher die Tage vor dem ersten Peak des Wochenendes 21.-22. März im Wetterlagenkalender weiss eingerahmt. Dies dürfte das optimale Zugfenster für die erste Welle der Ankömmlinge gewesen sein. Wir sehen durchwegs trockene Witterung bei durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen Temperaturen und zu Beginn die Grosswetterlage SEA = Südost antizyklonal, also eine über dem Alpenraum hochdruckbestimmte Lage mit überwiegend südlicher bis südöstlicher Anströmung. In den darauf folgenden Tagen einen Übergang zu HB = Hoch Britische Inseln, bei uns ebenfalls hochdruckbestimmt mit östlicher Anströmung. Nachfolgende Karte zeigt die Strömungsverteilung in Mitteleuropa in der Nacht zum 17. März:
Windströmungskarte für die Höhe von rund 1500 m. Die Fiedern zeigen Windrichtung und mittlere Windgeschwindigkeit, wobei eine ganze Fieder = 10 Knoten, eine halbe Fieder = 5 Knoten. Faustregel Umrechnung von Knoten in km/h: Knoten mal zwei Minus 10 Prozent = km/h. Durch das Hindernis Hochalpen werden die Windfelder teils umgelenkt und abgeschwächt, sind aber in grösserer Höhe bzw. an den Pässen mit der Hauptwindrichtung identisch.
2016
Der März 2016 war zunächst überwiegend von Wetterlagen nördlicher Richtung geprägt. Aufgrund der aussergewöhnlich warmen Arktis und der fehlenden Schneedecke in Osteuropa gelangten trotzdem keine sehr kalten Luftmassen nach Mitteleuropa. Die Witterung war mehrheitlich trocken, unterbrochen von schwachen Niederschlägen, die keine bleibende Schneedecke zurückliessen. Dabei lagen die Temperaturen meist um das für die Jahreszeit übliche Mittel. Erst zum Ende des Monats stieg die Temperatur in Mitteleuropa auf frühlingshafte Werte.
Man erkennt, dass am Wochenende vom 19./20. März erstmals eine signifikante Anzahl Flussregenpfeifer beobachtet wurde. Trotz trockener Verhältnisse blieb die Anzahl aber noch bescheiden, denn bei der Grosswetterlage HB (= Hoch Britische Inseln) herrscht bei uns eine Bisenlage und über den Alpen Nordwind, im Rhonetal Mistral vor. Offenbar gelangen so nur die härtesten Kämpfer bei Gegenwind in die Schweiz. Anders sieht es dann aus, wenn bei der winkelförmigen Westlage WW der Wind über den Alpen kurzzeitig auf Süd dreht und eine schwache Föhnlage bringt, so geschehen in der Nacht auf den 27. März. Doch erst die länger anhaltende und stärkere Südföhnlage (TRW = Trog Westeuropa) zum Monatswechsel spülte eine richtig grosse Welle von Flussregenpfeifern über die Alpen – notabene zwei Wochen später als im kalten März 2013, dem wir uns weiter unten widmen.
2014
Das Frühjahr war nach einem sehr milden Winter ebenfalls extrem mild. Die einzelnen Monate nahmen bei den Temperaturen die Werte des Klimamittels des jeweils folgenden Monats voraus. Der Februar 2014 war also ähnlich temperiert wie ein durschnittlicher März, der März 2014 fast so warm wie ein durchschnittlicher April. Entsprechend war die Entwicklung der Vegetation der langjährigen Norm um etwa drei Wochen voraus. Trafen also auch die Flussregenpfeifer früher bei uns ein als 2015? Keineswegs:
Auch in diesem sehr milden März trafen die Vögel im Zeitfenster zwischen dem 17. und 21. März ein, also etwa zur selben Zeit wie im Durchschnittsfrühling 2015. Wurde die windschwache Hochdrucklage eine Woche zuvor nur von einzelnen Vögeln genutzt, trafen mit der Grosswetterlage WA = West antizyklonal und SWZ = Südwest zyklonal deutlich mehr Individuen bei uns ein. Optimal war wahrscheinlich die Südwestlage in der Nacht auf den 21. März, als Rückenwind noch vor Eintreffen der Regenfront am 22. vorherrschend war:
2013
Besonders interessant wird die Auswertung des Frühjahrs 2013, das mit dem kältesten März seit über 25 Jahren in die Klimageschichte Mitteleuropas einging und eine markante Kältewelle von Mitte März bis ins erste Aprildrittel mit wiederholten und teils ergiebigen Schneefällen bis in die tiefsten Lagen aufwies. Berücksichtigt man diese Witterung, wäre die Schlussfolgerung auf einen verspäteten Vogelzug naheliegend. Die nachfolgenden Grafiken mögen daher überraschen und decken die Hinterhältigkeit einer Witterungsabfolge auf, die zahlreichen Zugvögeln zum Verhängnis wurde:
Bereits am 10. März wurden von den Beobachtern über 30 Flussregenpfeifer gezählt, also fast zwei Wochen früher als in den Jahren 2014 und 2015. Erste Vögel hatten eine aussergewöhnlich milde und trockene Südwetterlage (SA = Süd antizyklonal) für die Überquerung der Alpen genutzt:
Die konstant hohen Beobachtungsmeldungen in der Folge zeigen exemplarisch auf, wie ein typischer Zugstau bei extrem garstiger Witterung über einen längeren Zeitraum hinweg aussieht. Dabei kam der Flussregenpfeifer noch relativ gut weg, da seine Nahrungsgründe im seichten Wasser und an Uferpartien von Fliessgewässern zugänglich blieben. Andere Arten welche ihre Nahrung auf Wiesen und Äckern suchen müssen, waren hingegen bei teils tagelang geschlossener Schneedecke chancenlos und dem Hungertod geweiht.
Wir nehmen aus diesen Beispielen folgende Erkenntnisse mit: Nicht die Klimabilanz ganzer Monate oder gar Jahreszeiten sind aussagekräftig für das Zugverhalten einer einzelnen Vogelart, sondern die exakte Abfolge bestimmter Witterungsphasen und günstiger Grosswetterlagen (trockene und warme Phasen mit südlicher Windrichtung) im Frühjahr. Die aussergewöhnlichen Umstände von 2013 decken beispielhaft auf, wie wenig sich Vögel als Wetterpropheten eignen. Nutzen sie doch günstige Wetterlagen für den Heimzug in Unkenntnis darüber, dass bereits eine Woche später das Unheil über sie hereinbrechen kann.