Nach den trockenen Sommern 2018/19 ging in Mitteleuropa das Dürregespenst um, seither hat der Wind aber buchstäblich gedreht und nun haben wir eines der nassesten Winterhalbjahre seit Messbeginn hinter uns. Irgendwann muss dann auch genug sein, und wie schon das letzte Jahr gezeigt hat, bringt ein viel zu nasser Frühling der Natur wenig Vorteile, wenn der Sommer dann wieder viel zu trocken und zu heiss wird. Immerhin lagern jetzt in den Hochalpen rekordverdächtige Schneemengen, zumindest von dieser Seite ist Trockenheit kaum ein Thema.
Einmal eingefahrene blockierende Wetterlagen im Frühling lassen sich so rasch nicht vertreiben, meist braucht es Geduld bis in der zweiten Junihälfte oder Anfang Juli die nordhemisphärische Zirkulation in den zonalen Sommermodus umstellt, sprich: Westlagen und ihre Nachbarn Nordwest und Südwest wieder dominant werden. So scheint es auch diesmal zu laufen, die Zonalisierung in der ersten Juniwoche scheint nach den meisten Modellen nur vorübergehender Natur zu sein. Die seit inzwischen drei Monaten dominierenden Trog- und Tiefdrucklagen über West- und Mitteleuropa tauchen auch in den nächsten Wochen immer wieder in den Modellen auf. Das Problem dabei: Ob die Tröge über West- oder Mitteleuropa abtropfen – nur 100 Kilometer können dabei entscheidend sein – bringt einen ganz anderen Wettercharakter hervor, je nachdem ob man auf der Vorder-, der Rückseite oder inmitten des Troges landet. Entsprechend findet man in den Langfristmodellen eine Vielzahl variierender Läufe, den plausibelsten herauszpicken dürfte diesmal ziemliche Glückssache sein. Versuchen wir es trotzdem…
Unser Favorit lässt den seit mehreren Wochen dominanten Hochdruckblock über Westrussland noch eine Weile stehen und baut gleichzeitig südlich von Grönland einen neuen auf, der allmählich einen Keil in Richtung Iberische Halbinsel schickt. Durch eine Schwachstelle zwischen diesen beiden Hochdruckblöcken ist über Mitteleuropa der Weg frei für abtropfende Tiefs, die vom zentralen Trog über dem Nordmeer in Richtung Mittelmeer ausbrechen. Je nach Zugbahn und Positionierung sind somit häufige Grosswetterlagen Trog Westeuropa, Tief Britische Inseln und Südostlagen, oder aber Trog Mitteleuropa, Tief Mitteleuropa und Nordwestlagen. Hinter einem abtropfenden Tief kann sich jeweils für ein paar Tage eine Hochdruckbrücke über Mitteleuropa oder eine antizyklonale Westlage bilden. Für Abwechslung dürfte also gesorgt sein, eine beständige Hochdrucklage oder eine trockene Ostlage ist unter diesen Voraussetzungen eher unwahrscheinlich.
Die Druckkonstellation wird auch bei der Luftmassentemperatur abgebildet: Aussergewöhnlich warm wird bzw. bleibt es in Osteuropa und in weiten Teilen Skandinaviens, während sich eine Kälteanomalie rund um Island einnistet. Von dort aus zielt eine Zunge leicht unterdurchschnittlicher Temperaturen über die Britischen Inseln und die Alpen hinweg ins zentrale Mittelmeer, wobei die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass daraus meist durchschnittlich temperierte Monate oder solche in einem leichten Plus zum langjährigen Mittel resultieren. Entscheidend wird hier wohl sein, ob eher die nassen oder die sonnigen Phasen die Oberhand gewinnen.
Im gewählten Modelllauf wirkt sich der nach Westeuropa gerichtete Hochdruckkeil abtrocknend bis zu den West- und Zentralalpen aus, während die Ostalpen mit leicht überdurchschnittlichen Niederschlägen zu rechnen haben. Sowieso besteht über Mitteleuropa ein starkes Gefälle von Ost nach West in Sachen Niederschlag, was schlussendlich darauf zurückzuführen ist, dass die warmen Vorderseiten der Tröge und CutOff-Tiefs weitaus mehr Feuchtigkeit transportieren können als die kühlen Rückseiten. Wie aber bereits einleitend geschrieben, wird das mit der regionalen Verteilung eine ziemliche Lotterie, einzelne Gewittertreffer können da schon den Unterschied machen, ob der Monat zu nass oder zu trocken bilanziert.
Auswirkungen auf die Vogelwelt:
Die ohnehin schon rekordverdächtigen Schneehöhen in den Hochalpen haben in den letzten Maitagen weiteren Zuwachs erhalten, da liegt also ein riesiges Potenzial an Schmelzwasser bereit. Ein trocken-warmer Juni würde gleichmässiges Schmelzwasser in die Flüsse bringen, doch danach sieht es nicht aus. Es bleibt zu hoffen, dass keine extrem warm-nasse Wetterlage gleichzeitig sehr grosse Niederschlagsmengen und Schmelzwasser bringt, leider bergen aber die zu erwartenden Wetterlagen genau diese Gefahr. Hochwasser führende Bäche und Flüsse sowie hohe Pegelstände an den Alpenrandseen können so manche Brut von Wasservögeln zunichte machen. Eine gute Nachricht ist die Prognose zusammen mit der nassen Vorgeschichte für alle Bewohner der Feuchtgebiete im Flachland, die in den letzten Jahren nun wirklich nicht verwöhnt wurden. Die Vegetation ist üppig und das Insekten- wie auch Amphibienangebot reichhaltig, und eine allzu lang anhaltende nass-kühle Phase ist eher unwahrscheinlich, ebenso wie eine lang andauernde Hitzewelle.
Die experimentelle Monatsprognose nimmt Trends über die zu erwartende Entwicklung der Grosswetterlage in Europa auf und soll mögliche Auswirkungen der Witterung auf Vogelzug, Bruterfolg und Nahrungsverfügbarkeit der Vögel in den verschiedenen Regionen aufzeigen. Die Einschätzungen über Abweichung von Temperatur und Niederschlag sind jeweils über den Gesamtmonat gemittelt und können somit auch sich ausgleichende Extreme enthalten. Eine genaue Prognose über den detaillierten Witterungsverlauf ist in der Regel nicht möglich. Erfahrungsgemäss stimmt der Trend für die erste Monatshälfte recht gut, während in der zweiten Monatshälfte die Wahrscheinlichkeit von markanteren Abweichungen gegenüber der Prognose zunimmt.
Eine Verifikation der Langfristprognose für den vergangenen Monat mit einem Rückblick der Witterung in Europa finden Interessierte jeweils ab dem 4. des Folgemonats im Blog der Partnerseite fotometeo.ch.
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