Modelle kaputt! Wer die Wetterprognosen in den letzten Tagen etwas genauer verfolgt hat, wird sich wohl gefragt haben, ob die nicht mehr ganz richtig ticken. Also nicht die Meteorologen, sondern die Wettermodelle, auf die sich unsere Zunft wohl oder übel verlassen können muss. Nur schon die Wetterlage für das erste Januar-Wochenende zu bestimmen, gleicht einem heiteren Ratespiel, geschweige denn die weitere Entwicklung zumindest annäherungsweise aufzuzeigen. Was nicht nur die Langfrist-, sondern auch die Mittelfristmodelle alle sechs Stunden auftischen, ist an Absurdität nicht mehr zu überbieten und wechselt immer wieder von einem Extrem ins andere. Dabei dachte ich, nach 20 Jahren in diesem Beruf bald einmal alles gesehen zu haben – weit gefehlt…
Die Gründe für das wilde Herumgehopse der Wettermodelle ist rätselhaft, ist doch bis auf Weiteres kein Hokuspokus aus der Stratosphäre zu erwarten (sudden stratospheric warming SSW, der alljährliche Strohhalm aller Winterfans, egal ob deren Wirkung auf die Witterung in Europa belegbar ist oder nicht). Vermutet werden darf, dass die Modelle mit der neuen Realität geringer Eisausdehnung in der Arktis und nach wie vor viel zu warmer Meere insbesondere in den Subtropen nicht klarkommen. Das Eine sorgt für Stabilisierung der Atmosphäre im klassischen Westwindgürtel (schwaches Islandtief bzw. Blockadehochs im Bereich Grönland-Nordmeer), das Andere für Labilisierung an der Grenze zwischen gemässigten und subtropischen Breiten (schwaches Azorenhoch bzw. Tiefentwicklungen auf südlicherer Zugbahn als üblich). Je nach Positionierung des Blockadehochs wird Europa komplett vom milden atlantischen Einfluss abgeriegelt oder aber es wird von Tiefs südlich unterlaufen, was oft zu markanten Luftmassengrenzen irgendwo in Mitteleuropa führt, Schneechaos in einem relativ schmalen Streifen inklusive. Derzeit sieht es so aus, als würden wir in diesem Monat beides zu sehen bekommen (wie bereits im November und Dezember).
Die Auswahl der Modellrechnungen für den kommenden Monat ist also extrem reichhaltig. Nach mehrheitlich sehr warmen Rechnungen zur Monatsmitte folgte von CFS eine Salve von Kaltrechnungen, die das europäische Modell nur kurz mitmachte. Inzwischen ist ECMWF wieder gemässigter unterwegs und auch der allerletzte Lauf von CFS hat diesen Ball aufgeschnappt. Dann hoffen wir mal, dass diese Rechnung wegweisend ist: Eine Hochdruckanomalie soll sich vom Nordmeer über Mittel- bis nach Südosteuropa erstrecken, was insofern bemerkenswert ist, als dass die Mittelfristmodelle in diesem Bereich für das erste Monatsdrittel überwiegend Tiefdruck sehen. Somit muss in der Folge eine länger anhaltende Hochdrucklage das Monatsmittel deutlich ins Plus ziehen. Das war der Stand 31.12. 12z, heute 00z sieht das schon wieder komplett anders aus. Die reinste Lotterie also, aber man muss sich ja irgendwann mal für ein Szenario entscheiden…
Die Verteilung der Temperaturabweichung ist relativ chaotisch: Umrahmt von positiven Abweichungen insbesondere in Skandinavien und Südwesteuropa erstreckt sich eine Zone negativer Abweichung von England über die flachen Gebiete Mitteleuropas bis nach Südosteuropa. Dies dürfte hauptsächlich durch bodennah produzierte Kälte im Hochdruckgebiet zustande kommen, wie in der Altjahrswoche eindrücklich vordemonstriert. Für höher gelegene Gebiete Mitteleuropas werden entsprechend leicht positive Abweichungen gerechnet (Vorsicht, die Karte unten kann die topografischen Feinheiten nicht auflösen, die Folgen müssen durch Erfahrung erahnt werden). Schlussendlich wird für die Flächenbilanzen bei der Temperaturabweichung ausschlaggebend sein, ob eher die gradientarmen und windschwachen Hochdrucklagen oder die Tiefdrucklagen mit Durchmischung und wolkenreichen Nächten über den Gesamtmonat die Oberhand gewinnen. Langer Rede kurzer Sinn: Es ist schlicht unprognostizierbar.
Bei zwei Dritteln des Monats Hochdruckeinfluss wie in unserem ausgewählten Modelllauf gerechnet, fällt die Niederschlagsbilanz in weiten Teilen Mitteleuropas deutlich negativ aus. Nach dem inzwischen recht gesicherten nassen ersten Monatsdrittel dürfte in der Folge bis zum Monatsende kaum noch etwas fallen. Unnötig zu erwähnen, dass auch dies äusserst unsicher ist. Ebenso unsicher sind die zu nass berechneten Gebiete von den Azoren über die Kanaren bis teilweise in den Mittelmeerraum, da dürfte die Verteilung der Niederschläge eher zufällig werden. Etwas klarer scheint die Lage an der mittleren und nördlichen Küste Norwegens zu sein, die sich am Rand des Hochs häufig in einer Nordwestströmung befinden dürfte.
Auswirkungen auf die Vogelwelt:
Derzeit sieht es nicht danach aus, als ob extreme Wetterphänomene in Nordeuropa viele Vögel in die Winterflucht nach Mitteleuropa schlagen werden. Weder ist die Schneedecke in Nord- und Nordosteuropa aussergewöhnlich, noch drohen grössere Flächen der Ostsee einzufrieren. Invasionen wären demnach rein vom Nahrungsangebot abhängig, worüber uns aber leider die Datengrundlage fehlt. Aber der Reiz der Vogelbeobachtung liegt ja gerade in den Überraschungen. Was die Überwinterungschancen in Mitteleuropa betrifft, so sind diese ebenso unsicher wie die Wetterprognosen. Eine längere „fusskalte“ Hochdrucklage könnte seichte Gewässer zufrieren lassen. Für die grossen Seen ist die Wahrscheinlichkeit dafür aber gering und wäre nur bei Eintreffen der extremsten Szenarien im Modellpool denkbar.
Die experimentelle Monatsprognose nimmt Trends über die zu erwartende Entwicklung der Grosswetterlage in Europa auf und soll mögliche Auswirkungen der Witterung auf Vogelzug, Bruterfolg und Nahrungsverfügbarkeit der Vögel in den verschiedenen Regionen aufzeigen. Die Einschätzungen über Abweichung von Temperatur und Niederschlag sind jeweils über den Gesamtmonat gemittelt und können somit auch sich ausgleichende Extreme enthalten. Eine genaue Prognose über den detaillierten Witterungsverlauf ist in der Regel nicht möglich. Erfahrungsgemäss stimmt der Trend für die erste Monatshälfte recht gut, während in der zweiten Monatshälfte die Wahrscheinlichkeit von markanteren Abweichungen gegenüber der Prognose zunimmt.
Eine Verifikation der Langfristprognose für den vergangenen Monat mit einem Rückblick der Witterung in Europa finden Interessierte jeweils ab dem 4. des Folgemonats im Blog der Partnerseite fotometeo.ch.
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