Ein wettermässig völlig aus den Fugen geratenes Jahr wird garantiert keinen “normalen” Dezember zum Abschluss servieren, so weit keine Überraschung… Aktuell stehen sich abnormal warme Weltmeere auf der Nordhalbkugel der grössten Schneebedeckung auf dem eurasischen Festland gegenüber, seit diese per Satellitenmessung erfasst wird. Die Kontinentalmasse kühlt aussergewöhnlich früh aus, während Eisbedeckung in der Arktis Wassertemperaturen im Nordatlantik am anderen Ende der Skala stehen. Diese Gegensätze sorgen für eine aussergewöhnliche Konstellation und werden im ersten Wintermonat für extrem spannende Abläufe sorgen, die – ich nehme es vorweg – kaum prognostizierbar sind.

Tauwetter oder Sauwetter, das ist hier die Frage (bemitleidenswerte “Waldschneegans” im Berner Mittelland, Mitte Dezember 2020)
Die gute Nachricht vorneweg: Die Mittel- und Langfristmodelle rechnen seit etwa einer Woche oder sogar noch länger recht konstant eine völlig aus der Bahn geworfene nordhemisphärische Zirkulation. Es bestehen keine Zweifel, dass zumindest während der ersten Dezemberhälfte eine komplette Zonalwindumkehr in den unteren Luftschichten auf unserer Seite des Nordpols das Wettergeschehen bestimmen wird. Eine gewaltige Hochdruckanomalie erstreckt sich von Grönland bis nach Sibirien über ganz Nordeuropa hinweg, während sich irgendwo vor den Küsten Westeuropas eine Tiefdruckanomalie einnistet. Diese ist eine logische Folge davon, wenn mit starken Ostwinden sehr kalte Luft über Skandinavien hinweg auf den relativ warmen Atlantik geblasen wird: Die enormen Temperaturunterschiede lösen dort markante Tiefdruckbildung aus, es entsteht eine Westlage und die “Normalität” wird wieder einigermassen hergestellt. Das ist übrigens die Mechanik, die dem klassischen Weihnachtstauwetter zugrunde liegt (ob dies so genannt werden darf, wenn es zehn Tage vor oder nach Weihnachten auftritt, diese Diskussion überlassen wir Synoptiker den i-Tüpfel-Reitern unter den Statistikern). Und da liegt das Problem: Die genaue Position, Stärke und Ausdehnung dieses Tiefdrucksystems wird darüber entscheiden, wie es sich auf Mitteleuropa auswirkt, und dies wird von Lauf zu Lauf und von den verschiedenen Modellen völlig gegensätzlich gerechnet, was sich auch in den Ensembles eindrücklich manifestiert:

Temperaturentwicklung in rund 1500 m Höhe (obere Rauchfahne) und Niederschlag (am Boden des Diagramms) für den Gitterpunkt Bern nach dem europäischen Modell ECMWF
Mitteleuropa wird also zur “Kampfzone” hohen Luftdrucks im Norden und Osten einerseits und tiefen Luftdrucks im Westen andererseits, sowie kalten Luftmassen im Norden und warmen Luftmassen im Süden. Ich habe mich für diese Prognose für einen Modelllauf entschieden, der diese Differenzen auf engem Raum deutlich aufzeigt – was aber keineswegs bedeutet, dass es auch genau so eintrifft. Ein Zacken mehr Hochdruck im Norden schiebt Kaltluft und Trockenheit weiter nach Süden, während ein Hauch mehr Tiefdruck im Südwesten Wärme und Feuchtigkeit nach Norden transportiert. Wahrscheinlich ist, dass es mehrere Male in diesem Monat hin- und herpendelt. Wie sich dies auf den Gesamtschnitt des Monats in den verschiedenen Regionen genau auswirken wird, ist völlige Lotterie. Man kann einzig sagen, dass die Wahrscheinlichkeit für sehr kalte Phasen im nördlichen Mitteleuropa deutlich höher ist als im Süden.
Es wurde auch ein Modelllauf gewählt, der eher überdurchschnittliche Niederschläge irgendwo in Mitteleuropa zeigt – ganz einfach deshalb, weil es an einer scharfen Luftmassengrenze, wie sie zu erwarten ist, zwangsläufig zu Niederschlägen kommen muss. Es sei denn, der Hochdruck ist zu stark, auch diese Variante mit einem nahezu völlig trockenen Dezember in weiten Teilen Mitteleuropas (vor allem nach Norden hin) wird von mehreren Läufen gezeigt. Extreme Unsicherheit also auch hier, wobei überdurchschnittliche Niederschlagmengen am ehesten von Südwesteuropa bis zu den Südalpen zu erwarten sind, möglicherweise aber auch in einem relativ schmalen Streifen irgendwo quer durch Deutschland.
Auswirkungen auf die Vogelwelt:
So spannend die Unsicherheiten bei der Wetterentwicklung sind, so unvorhersagbar sind die kommenden Fluchtbewegungen der Vögel. Sollte es rund um die Ostsee tatsächlich zu einem markanten Kälteeinbruch kommen, werden die bereits dort rastenden nordischen Arten wahrscheinlich rasch in südlichere Regionen ausweichen. Eine grosse Unbekannte spielt hierbei auch die Nahrungsverfügbarkeit (Samen und Beeren), Kälte allein muss also bei Singvögeln nicht zwingend Fluchtbewegungen auslösen – zumindest nicht bei nordischen Arten, die sich solche gewohnt sind. Anders sieht es bei Wasservögeln aus: Eine scharfe Kältewelle, die seichte Gewässer und Küstenstreifen zufrieren lässt, verursacht sofortigen Wegzug: hauptsächlich nach Westen an den Atlantik. Wer auch immer diese spannenden Entwicklungen beobachten möchte, muss wetterfest sein: Egal ob beissend kalter Ostwind, schlechte Sicht durch Nebel, oder Schneefall gefolgt von Tauwetter und Regen mit entsprechend sumpfigem Gelände werden über weite Strecken dieses Monats zur Herausforderung.

Prognostizierte Abweichung der Monatsmitteltemperatur 2 Meter über Boden gegenüber der Klimanorm 1991-2020

Prognostizierte Abweichung des Monatsniederschlags gegenüber der Klimanorm 1991-2020
Die experimentelle Monatsprognose nimmt Trends über die zu erwartende Entwicklung der Grosswetterlage in Europa auf und soll mögliche Auswirkungen der Witterung auf Vogelzug, Bruterfolg und Nahrungsverfügbarkeit der Vögel in den verschiedenen Regionen aufzeigen. Die Einschätzungen über Abweichung von Temperatur und Niederschlag sind jeweils über den Gesamtmonat gemittelt und können somit auch sich ausgleichende Extreme enthalten. Eine genaue Prognose über den detaillierten Witterungsverlauf ist in der Regel nicht möglich. Erfahrungsgemäss stimmt der Trend für die erste Monatshälfte recht gut, während in der zweiten Monatshälfte die Wahrscheinlichkeit von markanteren Abweichungen gegenüber der Prognose zunimmt.
Eine Verifikation der Langfristprognose für den vergangenen Monat mit einem Rückblick der Witterung in Europa finden Interessierte jeweils ab dem 4. des Folgemonats im Blog der Partnerseite fotometeo.ch.
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Microwave am 3. Dezember 2022 um 11:32 Uhr
Danke vielmal für die interessanten Begründungen und Erklärungen im Rahmen von der Prognose! Macht wirklich immer wieder Spass zum lesen =D Grüsse – Microwave