Nachdem Ende April der letzte verbliebene Rest arktischer Kaltluft genau über Mitteleuropa nach Süden ausgebrochen ist (ein zweiter Teil davon ging über Nordamerika runter), muss sich die Luftmassenverteilung in den nördlichen Breiten erst mal wieder neu ordnen. Diese Umwälzungen, die für den Frühling übrigens normal sind, schaffen extreme Unsicherheiten für den weiteren Verlauf. Oft sind zu dieser Jahreszeit keine klaren Strukturen mehr erkennbar und die Luftmassen wabern scheinbar ziellos umher. Diese Umstände sorgen dafür, dass Wetterprognosen im Jahresverlauf statistisch die schlechtesten Werte im Frühling aufweisen. Wenn oft schon auf wenige Tage hinaus eine genaue Prognose unmöglich ist, wie soll dann die Witterung für den ganzen Monat vorhergesagt werden, mögen sich jetzt manche fragen. Nun, dass eine “Unordnung” herrscht und damit grosse Unsicherheiten bzw. ein sehr wechselhafter Witterungscharakter bevorsteht, ist ja auch schon mal eine Aussage. Grobe Tendenzen lassen sich trotzdem herauslesen, einzig die Details der Abläufe sind zu dieser Zeit völlig unvorhersehbar.

Der kleinste Strandläufer Europas (Temminck, vorne) und ein Sichelstrandläufer rasten am 10. Mai 2012 auf einer Sandbank des Neuenburgersees bei aussergewöhnlich tiefem Wasserstand als Folge des trockenen Frühjahrs. Der Höckerschwan watschelte freundlicherweise für einen Grössenvergleich ins Bild.
Das derzeit herrschende Chaos in der Nordhemisphäre verdeutlicht sich darin, dass die Modelläufe des Langfristmodells CFS in den letzten Tagen alle sechs Stunden eine völlig neue Lösung präsentierten. In solchen Situationen hilft auch der Spürsinn der Meteorologen nicht weiter, das Herauspicken eines bestimmten Szenarios wäre nicht mehr als ein Glücksspiel. Daher fiel die Wahl für unsere Prognose auf einen Lauf, der keine starken Abweichungen von der Norm aufweist, aber der zu erwartenden Gesamtsituation am nähesten kommen könnte. Die Karte mit den steuernden Druckgebilden in der mittleren Troposphäre in rund 5500 m Höhe zeigen ein leicht geschwächtes Azorenhoch und eine leicht negative Druckanomalie über dem Europäischen Nordmeer, während weite Teile des europäischen Festlands einen schwachen Trend zu leicht erhöhtem Druck aufweisen. Dies kann auf zweierlei Weise interpretiert werden: Entweder herrschen über weite Strecken des Monats nur schwache Luftdruckgegensätze, im Meteorologenjargon auch “Barosumpf” genannt, oder aber es wechseln sich sehr verschiedene Grosswetterlagen ab, was eine stark wechselhafte Witterung mit recht kühlen und sehr warmen Phasen zur Folge hat.
Die Verteilung der Lufttemperatur-Anomalien zeigt einen sehr warmen Norden zwischen Grönland und Nordskandinavien, was die logische Fortsetzung der bereits im vergangenen Winter rekordwarmen Verhältnisse in der Arktis wäre. Daran südlich schliesst ein Gürtel mit durchschnittlichen bis leicht negativen Mittelwerten an, der aufgrund des immer noch etwas unterkühlten Nordatlantiks ebenfalls seine Berechtigung hat. Die im Schnitt immer noch am häufigsten auftretenden Westlagen führen diese kühle Atlantikluft über die Britischen Inseln hinweg zur Nord- und Ostsee und weiter ins Baltikum. Der eher warme Gürtel über Mitteleuropa deutet darauf hin, dass in unserem gewählten Szenario häufig Hochdruckbrücken bzw. geringe Luftdruckunterschiede dominieren. Der Mittelmeerraum wiederum weist keine nennenswerten Temperaturabweichungen zur Norm auf.
Aufgrund der herrschenden Unsicherheiten sollte auch die Karte mit den Abweichungen der Niederschläge nicht allzu genau ausgelegt werden. Sie zeigt aber den Trend auf, der zum eingangs erwähnten “Barosumpf” passt: Über den Gebirgen bringen häufige Schauer und Gewitter überdurchschnittliche Niederschläge, während es im Flachland wahrscheinlich im Schnitt trockener wird als im langjährigen Mittel. Die erhöhten Niederschlagswerte in weiten Teilen Südeuropas stützen wiederum eher die Theorie Hochdruckbrücke über Mitteleuropa mit abgetropften Tiefdruckgebieten im Mittelmeerraum.
Auswirkungen auf die Vogelwelt:
Nach dem überraschend heftigen Kaltlufteinbruch Ende April gilt es für viele Vögel, eine Ersatzbrut anzulegen. Ein durchschnittlich bis leicht überdurchschnittlich warmer Mai ohne allzu heftige Kapriolen wäre dabei hilfreich. Ein gewisses Risiko bietet die zuletzt bis in Mittelgebirgslagen der Alpen aufgebaute Schneedecke. Falls jetzt warmer Regen bis in hohe Lagen die Schneedecke runterspült, ist mit Hochwasser zu rechnen. Am stärksten ausgeprägt ist dieses Risiko an den Flüssen, welche die südlichen Ostalpen entwässern. Flachlandgewässer wie etwa Oder und Elbe führen hingegen bereits jetzt Niedrigwasser, daran dürfte sich wahrscheinlich in den nächsten Wochen nicht viel ändern. Für die spät ziehenden Vogelarten ist momentan keine aussergewöhnliche Situation erkennbar, die Zugwege sind jeweils nur für kurze Zeit durch ungünstige Witterung blockiert.

Prognostizierte Abweichung der Monatsmitteltemperatur von der Klimanorm 1981-2010

Prognostizierte Abweichung des Monatsniederschlags gegenüber der Klimanorm 1981-2010 (rot = nasser, blau = trockener als normal)
Die experimentelle Monatsprognose nimmt Trends über die zu erwartende Entwicklung der Grosswetterlage in Europa auf und soll mögliche Auswirkungen der Witterung auf Vogelzug, Bruterfolg und Nahrungsverfügbarkeit der Vögel in den verschiedenen Regionen aufzeigen. Die Einschätzungen über Abweichung von Temperatur und Niederschlag sind jeweils über den Gesamtmonat gemittelt und können somit auch sich ausgleichende Extreme enthalten. Eine genaue Prognose über den detaillierten Witterungsverlauf ist in der Regel nicht möglich. Erfahrungsgemäss stimmt der Trend für die erste Monatshälfte recht gut, während in der zweiten Monatshälfte die Wahrscheinlichkeit von markanteren Abweichungen gegenüber der Prognose zunimmt.
Eine Verifikation der Langfristprognose für den vergangenen Monat mit einem Rückblick der Witterung in Europa finden Interessierte jeweils ab dem 4. des Folgemonats im Blog der Partnerseite fotometeo.ch.
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