Wahrscheinlich das eindrücklichste Naturschauspiel, das man in Mitteleuropa beobachten kann, ist der abendliche Einflug eines Millionenschwarms von Vögeln zum Schlafplatz. Eine der bestdokumentierten Invasionen von Bergfinken ist jener in der Südoststeiermark im Winter 2008/09, wo rund vier Millionen Vögel bis zu drei Monate verbrachten. Nur selten sind derart riesige Ansammlungen, und noch seltener reicht das Nahrungsangebot in einer Region aus, um den Schwarm über eine so lange Zeit versorgen zu können.

Ein grösserer Trupp Vögel hat sich kurz in einem einzelstehenden Baum (am linken Bildrand) zur Zwischenruhe gesetzt. Jetzt schliessen sie sich dem letzten (von rechts) nahenden Schwarm an, der den Schlafplatz ansteuert. Das Geräusch das durch die zehntausenden im selben Augenblick auffliegenden Vögel entsteht, ist unbeschreiblich.
Dass der weit verbreiteten Meinung, die Bergfinken würden in besonders kalten Wintern in grösserer Zahl nach Mitteleuropa migrieren, jegliche Grundlage fehlt, zeigt die nachfolgende Karte. Dargestellt ist die mittlere Temperaturabweichung des Dezembers 2008 gegenüber dem Klimamittel in Europa. Man sieht, dass im Herkunftsgebiet der Bergfinken – also in den borealen Wäldern Nordosteuropas – die positive Temperaturabweichung mit 4 bis 5 Grad am grössten war. Der Grund für die Migration ist also nicht das vorherrschende Wetter, sondern das Nahrungangebot im Norden. Ist dies z.B. nach einem Dürresommer stark eingeschränkt, wandern die Vögel so weit, bis sie einen reich gedeckten Tisch finden.
Wohin es also grössere Schwärme verschlägt, kann anhand des Wetters zum Winterbeginn nicht vorhergesagt werden. Einzig der Schneebedeckungsgrad kann Hinweise darauf geben, wo die Vögel mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht lange verweilen werden, weil sie dort die Buchennüsschen unter der Schneedecke nicht finden können. Ansonsten dürften die Wanderbewegungen nach dem Prinzip Zufall erfolgen. Finden die Vögel eine reiche Nahrungsquelle, verbleiben sie längere Zeit dort, so lange nicht viel Schnee fällt. Trockene Kälte macht ihnen hingegen kaum etwas aus. Hat sich mal ein grösserer Schwarm gebildet, kann er jedoch auf kleinere herumstreifende Trupps anziehend wirken, sodass die Ansammlung im Lauf der Zeit immer mehr Zuwachs erhält. Finden sie zufällig ein Gebiet mit Buchenmast, das ihnen über längere Zeit eine gute Nahrungsgrundlage bietet, können sie wochenlang dort verbleiben. In der Steiermark im Winter 2008/09 war dies der Fall, zudem ist dort mit weiten Ackerflächen mit überwiegend Maisanbau eine zusätzliche Nahrungsquelle vorhanden. Ein Glück für die Beobachter in der näheren und weiteren Umgebung war zudem, dass den ganzen Winter über nie grössere Schneemengen fielen.
Nachfolgend ein paar Eindrücke vom Schlafplatz bei Lödersdorf, besucht am 19. Februar 2009:

Nein, kein Schnee. So sieht das ungefähr zwei Hektar grosse Wäldchen nach zwei Monaten Bergfinkenschlafplatz aus.

Wo viel Vogeldreck rumliegt, können auch die Vogeljäger nicht weit sein. Die einen bewegten sich am Boden, allerlei schweres Zeugs mit sich rumschleppend. Die anderen schwebten elegant durch die Lüfte und warteten, bis ihr Abendbrot auftauchen würde…

Und dann tauchten sie auf, die ersten Protagonisten der allabendlichen Show. Der Besitzer des Wagens hatte vorgesorgt – er hat immerhin schon zwei Monate Erfahrung mit dem ungewöhnlichen Niederschlag. Einige Zuschauer hatten sich sogar mit Regenschirmen eingedeckt.

Dann hiess es: “Kopf runter!” Zumindest glaubte man dies im ersten Augenblick. Aber ein paar Meter Respektdistanz hielten die Vögel gegenüber den Beobachtern dann doch ein. Kurz vor Sonnenuntergang begann ein etwa einstündiger Formationsflug, dem sich immer mehr Bergfinken aus allen Himmelsrichtungen anschlossen.

Kein freies Zweiglein mehr. Aber das war sowieso nur ein Zwischenstopp, während der grösste Teil des Schwarms immer noch in der Luft herumsurrte. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit leerte sich dieser Baum dann innert weniger Sekunden und die Bergfinken liessen sich wie auf Kommando im nahe gelegenen Wald zur Ruhe nieder.

Hitchcock hätte seine Freude gehabt, denn die Natur ist immer noch der beste Regisseur. 4 Millionen Bergfinken versammeln sich an ihrem Schlafplatz.

Das Licht der untergehenden Sonne bricht sich im Gefieder der Bergfinken und lässt diese in allen denkbaren Farben aufblitzen. Für das menschliche Auge in Realzeit durch das schnelle Gewusel im Schwarm nicht sichtbar – erst die extrem kurze Verschlusszeit von 1/8000 Sekunde macht es möglich.

Bergfinken kreisen in der Dämmerung in mehreren Verbänden um ihren Schlafplatz, bevor sie sich wie auf Kommando im Wald niederlassen.

Die Vögel schaffen sich mit ihrer Körperwärme ihr eigenes Mikroklima. Am Schlafplatz wurden nachts um zwei Grad höhere Temperaturen gemessen als in der Umgebung.

Vier Millionen Bergfinken finden selbst bei einer Weitwinkelaufnahme nicht alle Platz auf dem Bild. Denn hinter mir befanden sich noch mal so viele, und im Schattenbereich sind ebenfalls ganze Schwärme unterwegs, bzw. haben sich bereits in die Bäume gesetzt.
Solch riesige und längere Zeit stationäre Schwärme sind übrigens erst in unserer Überfluss-Gesellschaft möglich geworden. Früher (bis in die Nachkriegszeit) waren die Bucheckern wertvolles Viehfutter, da blieb für die Vögel kaum was übrig. Auch der erhöhte Nährstoffeintrag (Dünger, CO2-Anstieg etc. und Klimaerwärmung), sowie das zunehmend höhere Alter unserer Wirtschaftswälder durch geringere Waldnutzung bringt häufigere und ertragreichere Buchenmastjahre hervor. Solche Phänomene könnten sich somit in Zukunft häufen (da wäre dann das mit der biblischen Plage nicht mal so weit hergeholt ;-) )
Bruno Stephani am 15. März 2015 um 12:12 Uhr
Interessante Recherche – tolle Bilder – heerzliche Gratulation
Kurt Nadler am 29. Dezember 2019 um 22:25 Uhr
Liebe Fabienne!
Eindrucksvolle Geschichte und super Fotos.
Noch nie vom Lichtbrechungsphänomen auf Vogelflügeln gehört!
Herzliche Grüße
Kurt