Wahrscheinlich ist es die Mischung aus naiver Zutraulichkeit, der Exotik des seltenen Gastes und der rührenden Knopfaugen, die uns alljährlich im Spätsommer aufs Neue fasziniert, uns lange Anfahrtswege und viel Geduld auf uns nehmen lässt um ihn zu suchen: Die Rede ist vom Mornellregenpfeifer (Charadrius morinellus). Ein recht sicherer Beobachtungsplatz ist der Cassonsgrat im nördlichen Graubünden, der Vogelfreunde und -fotografen bisweilen in Scharen anzieht.
Wie sieht ein perfekter Spätsommertag im Gebirge aus? Man nehme ein kräftiges Hochdruckgebiet über Mitteleuropa, wobei das Zentrum des Höhenrückens über den Alpen liegen sollte. Das garantiert sehr trockene Luft durch Absinken im Hoch, perfekte Fernsicht, keine Chance für Gewitterbildungen und zudem windschwache Verhältnisse. Diese Voraussetzungen waren in ihrer Gesamtheit am 04.09.2013 gegeben:
Die Karte zeigt den dafür zuständigen Grosswetterlagentyp “Hoch über Mitteleuropa”. Der blockierende Hochdruckkeil wird von Trögen über dem Ostatlantik und Osteuropa flankiert und bildet ein sogenanntes Omega, dem die Höhenströmung und somit auch die Störungszonen folgen. Sie müssen den Alpenraum in weitem Bogen nach Norden umfahren.
Unter solchen Bedingungen trübt keine Wolke die Sicht auf die Berggipfel. Die besten Voraussetzungen also, sich mal die Glarner Hauptüberschiebung genauer anzusehen. Dafür sucht man sich am besten den Cassonsgrat oberhalb von Flims aus. Bei dieser geologischen Besonderheit liegen ältere Gesteinsschichten (Verrucano, Alter 250 bis 300 Mio. Jahre) über jüngeren (Kalke, Alter 100 bis 150 Mio. Jahre). Im folgenden Bild ist diese Hauptüberschiebung an der Bergkette im Hintergrund sehr eindrücklich zu erkennen (von l.n.r.: Tschingelhörner, Atlas, Piz Segnas). Die gut sichtbare Linie besteht aus Lochsitenkalk, ist wenige Meter dick und diente bei der Überschiebung als “Schmiermittel”. Sie trennt das Verrucanogestein vom Kalk:
Dieselbe Abfolge ist im Vordergrund auf dem westlichen Teil des Cassonsgrates zu sehen: Vorne das grünliche Verrucano-Gestein, im Mittelgrund das gelbliche Kalkgestein. Diese einzigartige Nachbarschaft von Silikat- und Kalkböden ist auch für Botaniker interessant, befinden sich doch hier völlig unterschiedliche Pflanzengesellschaften nur wenige Schritte auseinander.
Doch im Spätsommer ist die Pflanzenpracht bereits zu einem Grossteil verblüht. Ende August bis Anfang September spielt auf dem Cassonsgrat ein ganz anderes Lebewesen die Hauptrolle und zieht zahlreiche Ornithologen und Naturfotografen an: der Mornellregenpfeifer. Auf seinem Weg aus den Brutgebieten im hohen Norden nach Afrika sucht er sich als Rastplatz bevorzugt ähnliche Landschaften aus, die er sich von seinem Geburtsort gewohnt ist: Schütter bewachsene Flächen der Tundra mit freier Sicht und optimalerweise mit Ausrichtung nach Süd bis Südwest, seiner Zugrichtung. Diese Voraussetzungen bietet der Cassonsgrat auf knapp 2700 m Seehöhe, sodass sich diese Vögel hier in einem kurzen Zeitfenster von wenigen Tagen bis Wochen regelmässig einfinden. Völlig auf ihr Tarngefieder vertrauend und aus ihrer weitgehend menschenleeren Heimat keinerlei Erfahrung mit unser Spezies aufweisend, sind die Vögel recht zutraulich bis neugierig:
Bei respektvoller Annäherung lässt sich der Mornell nicht aus der Ruhe bringen. Oft spazieren ornithologisch unerfahrene Wanderer wenige Meter neben den Vögeln vorbei, ohne diese zu bemerken. Wahrscheinlich ist es diese Unbekümmertheit der Vögel, die eine solche Anziehungskraft auslöst. An günstigen Tagen werden die Mornells von Beobachtern und Fotografen mitunter geradezu umringt. Auch ich konnte dieser Faszination nicht widerstehen und legte mich eine Stunde lang neben einem ruhenden Mornell auf den Bauch. Das Titelbild zeigt den völlig entspannten Vogel nur 80 cm vor meiner Linse und ist das Ergebnis einer sehr behutsamen Annäherung (und eines selbstverständlich ebenso behutsamen Rückzugs). Auch weitere, in der Nähe vorbeigehende Kollegen schienen den Vogel dabei kaum zu beeindrucken:
Wer sich von diesen faszinierenden Vögeln loszureissen vermag, kann aber auf dem Cassonsgrat noch weitere Sehenswürdigkeiten entdecken. Ein ausgeschilderter Naturlehrpfad führt an zahlreichen geologisch interessanten Stellen vorbei, wo mit Informationstafeln die sichtbaren Zeichen der Alpenfaltung und -verwitterung erklärt werden. Auch die einheimische Flora und Fauna wird vorgestellt:

Raststelle mit Blick auf das Trinserhorn (Piz Dolf), 3028 m mit einem sichtbaren Teil der Glarner Hauptüberschiebung
Der Pfad führt bis ans östliche Ende des Cassonsgrates, um dann durch ein kleines Tal südlich davon zur Gipfelstation zurückzuführen. Dabei werden auf einer Gesamtlänge von 6 km je 200 Höhenmeter im Auf- und Abstieg überwunden.
Die veranschlagte Zeit von 2.5 Stunden reicht zwar für das Studium der zahlreichen Informationstafeln aus, wer sich Zeit für Tierbeobachtungen nehmen möchte, sollte aber deutlich mehr einberechnen. Diese Alpenschneehuhn-Familie (führende Henne mit zwei Halbwüchsigen) war aufgrund ihrer guten Tarnung nur durch genaues Absuchen des Südhangs nach einer ihrer leisen Kontaktrufe zu entdecken:
Weitere Alpenvögel wie Steinschmätzer, Bergpieper, Alpenbraunelle, Schneesperling, Alpendohle und Kolkrabe können entdeckt werden. Mit etwas Glück fliegt auch mal ein Steinadler oder ein Bartgeier vorbei. Ebenfalls viel Glück braucht es für den Schneehasen, während die Murmeltiere durch Warnpfiffe ihre Entdeckung leicht machen:
Tour: Bergstation Cassons – Cassonsgrat West – Cassonsgrat Ost – Plaun Sura – Bergstation Cassons. Höchster Punkt: 2695 m, tiefster Punkt: 2498 m. Schwierigkeitsgrad: mittel, Schwindelfreiheit von Vorteil, der steile Aufstieg zur Bergstation in dieser Höhe erfordert einige Kondition. Der Pfad ist ausgeschildert und bietet keine Orientierungsschwierigkeiten. Bergtaugliche Schuhe und Kleidung unerlässlich. Anreise über Chur nach Flims, dort Aufstieg mit Sessellift und Gondelbahn bis Cassonsgrat Link zur Karte
Update September 2016: Die Seilbahn Naraus-Cassonsgrat hat ihren Betrieb eingestellt. Die Tour ab der Sesselbahnstation Naraus enthält zusätzlich je 800 m im Auf- und Abstieg. Steiler Bergweg, Trittsicherheit und gute Kondition erforderlich!
Thomas Griesohn-Pflieger am 3. Oktober 2017 um 12:53 Uhr
Schöner Bericht! Die geologischen Zusammenhänge finde ich sehr interessant. Aber eines wüsste ich noch gerne:
Welcher Vogel fliegt über dem Murmel?
Gruß
Thomas
Fabienne Muriset am 4. Oktober 2017 um 00:26 Uhr
Danke. Auf dem Originalfoto ist gerade noch zu erkennen, dass es sich um einen Steinschmätzer handeln muss.